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LESEPROBE:
Hüterin der Märchen
Die Ladenglocke klingelte, als Dilara vorsichtig die Tür öffnete. Sogleich stellte sich das Gefühl von Vertrautheit ein, das sie schon Jahre nicht mehr gespürt hatte. Sie hatte es einfach vergessen. Die letzten Jahre war Dilara auf der Suche gewesen. Seit ihrem 18. Geburtstag. Wonach wusste sie selbst nicht so genau. Heute wurde sie 22. Eine lange Zeit. Ein Hauch dessen, wonach sie sich sehnte, schien in der Luft zu liegen. Oder lag es an dem Duft der Kräuterbündel und Kräutermischungen, die die Regale des kleinen Ladens füllten und sie an ihre Kindheit erinnerten?
'Da bist du ja. Schön, dass du gekommen bist.' Die faltigen Hände ihrer Großmutter Alina umfingen ihre, so, wie sie es immer getan hatte. 'Ich brauche deine Hilfe.'
'Ich weiß nicht, ob ich dir eine Hilfe sein kann.' Unwillkürlich fasste sich Dilara an den Kopf. Die Folgen ihres schlimmen Fahrradunfalls waren immer noch zu spüren. Rasende Kopfschmerzen fast jeden Tag. Vom Rücken ganz zu schweigen … Sie konnte kaum sitzen. Stehen und liegen waren die besten Alternativen. Eigentlich schmerzte immer noch der ganze Körper. Und sie fand kaum Schlaf. Oft lag sie stundenlang wach in der Nacht. 'Was kann ich denn für dich tun?', fragte Dilara zweifelnd. 'Du sollst etwas für mich aufschreiben.'
'Ich kann noch nicht lange sitzen – der Rücken …'
'Daran habe ich schon gedacht.' Alina führte Dilara in ein kleines Hinterzimmer, dessen Regale genauso überfüllt aussahen wie die des Ladenraums, nur dass sich hier anstatt Kräutern alte Bücher in den Regalen drängten. Ein Ohrensessel, dessen Bezug schon reichlich abgenutzt aussah, nahm die größte Fläche des Raumes ein. Daneben stand ein Stehpult. 'Siehst du, ich habe vorgesorgt', erklärte Dilaras Großmutter mit einem aufmunternden Lächeln.
'Was soll ich denn für dich aufschreiben?' Dilara musterte das Stehpult mit einem fragenden Blick. 'Märchen', antwortete Alina.
'Märchen?', fragte Dilara ungläubig. 'Oh – nicht die Art von Märchen, die du schon als Kind gehört hast. Nein. Diese Märchen werden etwas ganz Besonderes sein. Sie berühren die Seele der Menschen. Früher nannte man sie Heilende Worte, Magische Märchen, Seelenmärchen …
'Ein Geschenk? Wofür? Und was ist das für ein goldenes Leuchten nicht weit entfernt?' Ila seufzte. Sie müsste ihm einiges erklären. 'Wir sind das Wolkenvolk, wie ich schon sagte. Wir wohnen in den Wolken und erschaffen den Schicksalsteppich der Menschen – also von euch. Jede Nacht erheben sich die Seelen der schlafenden Menschen wie leuchtende Sterne und kommen hierher zu uns. Sie vereinigen sich und legen sich als goldener Schleier auf den Teppich. Das ist das Leuchten, das du gesehen hast. Sie zeichnen in feinen Linien die Schicksalswege der Menschen vor. Unsere Aufgabe ist es, diese Linien mit unserem Garn nachzusticken. Dadurch wird das Schicksal besiegelt. Die Linien kreuzen sich bei Begegnungen, laufen parallel in Freundschaften und Familien, enden mit dem Tod. Alles ist mit allem verbunden. Dinge, die ihr sehen könnt, und Dinge, die ihr nicht sehen könnt. Und manches könnt ihr sehen, erkennt es aber nicht. Manchmal', ihre Stimme wurde leiser, 'manchmal, wenn ein Tag auf der Erde besonders schlimm war oder wenn etwas geschah, was viele Herzen der Menschen bewegte, leuchten die ankommenden Seelen besonders hell. So hell, dass der Teppich selbst morgens noch davon zu glühen scheint und ihr es sogar auf der Erde sehen könnt – als Morgenrot. Unsere beiden Welten sind verflochten. So wie wir wieder mit einer anderen. Sie deutete auf die Phiolen. Nichts im Universum existiert allein. Alles ist eins, gehört zusammen. Als Geschenk für unsere Arbeit erhalten wir etwas von der Essenz dieser Seelen. Jeden Abend ein paar Tropfen für unsere Phiolen. Das Seelenlicht. Es ist pure Liebe. Es ist unser Heilmittel. Es macht uns gesund und jünger – und lässt uns sehr, sehr alt werden. 'Und dieses Leuchten?', fragte Adrian. 'Auch das kommt vom Heilmittel. Je älter wir werden und je mehr wir davon erhalten, desto heller leuchten wir.' Ila lächelte. 'Wir lieben diese Arbeit. Es ist unser Leben. Wir sind dafür geschaffen. Sieh mich an.' Sie hielt ihre Hand mit ihren langen dünnen Fingern vor sein Gesicht. 'Damit können wir die feinsten Stiche setzen. Und jedes neugeborene Kind erhält sofort nach der Geburt eine Garnrolle, die seiner Augenfarbe entspricht.' Sie holte die Garnrolle aus ihrer Tasche und hielt sie neben ihr Gesicht. 'Wir haben sie ein Leben lang und sie wird nie leer.' Unverhohlen staunend blickte Adrian in ihre ungewöhnlichen türkisblauen Augen.
'Darf ich den Teppich sehen? Bitte! Vielleicht kann ich etwas über Janas Schicksal herausfinden', bat Adrian drängend. Er erzählte Ila von seiner Frau. Ila fing den warnenden Blick ihrer Mutter auf. 'Ich glaube nicht', antwortete Ila zögerlich. 'Kein Mensch hat jemals den Teppich gesehen', mischte sich Ilas Mutter ein. 'Fordere das Schicksal nicht heraus. Nichts darf den Lauf des Schicksals gefährden. Und wie willst du denn die Schicksalslinie deiner Frau erkennen? Wir wissen nicht, wessen Schicksal wir sticken. Wir erkennen die Linie einzig und allein an ihrer Farbe. Sie entspricht genau dem dazugehörenden Garn.' Mutlos ließ sich Adrian auf die Liege zurückfallen. Ila gab einen Tropfen des Heilmittels auf seine Stirn. Sofort schlief Adrian ein.